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„Die Wurst vom anderen Ende her anschneiden“ (Fontane)
oder „God is in the details“
Die Hamburger Schule des Fernsehspiels
Das Interview führte Hans-Dieter Schütt kurz vor dem achtzigsten Geburtstag von Dieter Meichsner im Februar 2008
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Einerseits einer der „maßgeblichen Autoren des deutschen Fernsehspiels, der die Entwicklung dieses Genres entscheidend geprägt hat“ (Killy, LITERATUR LEXIKON) - andererseits Fernsehspielchef des NDR und Begründer der „Hamburger Schule des Fernsehspiels“...? |
M: Der Ordnung halber: Hier und da liest es sich auch anders, und die „Hamburger Schule“ gehe auf Egon Monk zurück; es überwiegt aber die mutmaßlich korrekte Lesart, dass Monk zwar eine „Hamburger Dramaturgie“ entwickelt, ich aber die „Hamburger Schule“ begründet hätte. Immerhin bemerkenswert. Es wären ja aus der Hamburger Redaktion gleich zwei – wie soll ich es nennen – Fernsehspiel-Lehranstalten erwachsen. Oder nennen Sie ein vergleichbares Beispiel...
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Das müsste ich nachschlagen, aber wir hatten vereinbart, das Gespräch aus dem Gedächtnis zu führen, also keine „Geschichte des Fernsehspiels“, sondern allein wie sie sich in der Erinnerung von Dieter Meichsner spiegelt. Was befriedigt Sie heute mehr – der „maßgebliche Autor“ oder der „Begründer der Hamburger Schule“? |
Autor und Fernsehspielchef – Privileg und Risiko
M: Es lässt sich im Nachhinein nicht mehr trennen. Nur Eines habe ich immer bekannt: Wenn sich beides nicht mehr hätte vereinbaren lassen – die Redaktion und das Schreiben (nachts und an den Wochenenden) – hätte ich den Redaktionsschreibtisch verlassen. Vergessen Sie nicht: Meine Doppelfunktion war ja durchaus nicht ungewöhnlich. Ich war nur eines der letzten, vielleicht das letzte überlebende Fossil aus den Aufbruchzeiten des Fernsehspiels. Anfangs war es die Regel, dass Autoren, Schauspieler, Regisseure zugleich Redaktionsleiter, also Verwaltungsmenschen waren. Diese Selbstverständlichkeit ging im Laufe der Jahre verloren.
Das hatte für den NDR handfeste Vorteile. Es ist ja viel schriftstellerisches Potenzial in die Redaktionsarbeit eingegangen. Ich habe nie die Seiten gezählt, die ich jüngeren unerfahrenen Autoren geschenkt habe. Ein paar Mal blieb mir nichts anderes übrig, als verkorkste Drehbücher unter Pseudonym neu zu schreiben. Ich erinnere mich, dass der zuständige Redakteur mir einmal leicht zerknirscht mitteilte, dass ein Tatort-Manuskript missraten war. Der Produktionstermin stand fest. Na und? Er möge ein Ersatz-Manuskript aus der Schublade ziehen. Da gestand er mir, die Schublade sei leer. Er hatte sich darauf verlassen, dass zur Not der Chef einspringen würde. Nachher hat es mich natürlich gefreut, dass mein Pseudonym glänzende Kritiken bekam.
Wichtiger noch, dass ich als Redaktionsleiter ein Dutzend Produktionen habe verwirklichen können die außer bei uns nirgendwo entstanden wären. Das betraf keineswegs nur von mir selbst geschriebene Projekte wie SCHWARZ ROT GOLD, über die scheinbar unerzählbar komplizierte Materie der Wirtschaftskriminalität. Aber auch damit wäre ich als freier Autor bei keiner Redaktion durchgedrungen. SCHWARZ ROT GOLD hätte nie das Licht der Welt erblickt, wenn ich die Reihe nicht auch redaktionell hätte durchsetzen können. Außer mir glaubte niemand an den Erfolg, der sich dann einstellte. Meine jungen Redakteure dachten anfangs wohl insgeheim, derAlte sei endgültig durchgeknallt.
Mein Privileg war zugleich aber auch mein Risiko. Wäre der Erfolg ausgeblieben, hätte mich niemand auffordern müssen, meinen Hut zu nehmen. Aber dieses Risiko war mir nicht neu. In meiner Doppelrolle als Autor und Redakteur war ich, weit mehr als jeder Nur-Redakteur, zum Erfolg verdammt. So besehen war das rühmende Etikett „Hamburger Schule“ damals mehr als nur schmeichelhaft - es war nützlich, hilfreich, manchmal wie eine Art Schutzschild.
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Hatten Sie den nötig? Sie hatten doch, die Redaktion und auch Sie selbst, einen Haufen von Preisen eingeheimst, Auszeichnungen, Zustimmung, Anerkennung… |
Quer zu Zeitgeist und Trend
M: Von heute aus betrachtet. Aber vergessen Sie nicht, wir wurden häufig bekrittelt und bemäkelt. Von den großen Blättern behandelte uns nur Die WELT wohlwollend. SÜDDEUTSCHE, FAZ, ZEIT, oder gar SPIEGEL durchaus nicht. Nein, wir schwammen nicht im Zeitgeist mit, wir lagen nie im Trend. Das war ja auch mutmaßlich eines der Merkmale der „Hamburger Schule“.
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Aber sie haben unter der Außenseiterrolle nicht gelitten? |
M: Das habe ich nie behauptet. Im Gegenteil; es fanden sich ja, selbst wenn ich unter heftigen polemischen, auch persönlich verletzenden Beschuss geriet, immer Menschen, die mich – oft ohne dass ich davon erfuhr - stützten. Wenn ich es hochtrabend ausdrücken wollte, könnte ich behaupten, dass meine berufliche Existenz ein Exempel für den geschmiert funktionierenden Pluralismus in der Bundesrepublik gewesen sei. Nur ein Beispiel: Die Aufregung um mein erstes Fernsehspiel „Besuch aus der Zone“: Der Bundesinnenminister beklagte vor dem Bundestag meine krypto-kommunistische Einstellung. Die Empörung von Mächtigen der CDU hatte für den Intendanten des SÜDDEUTSCHEN RUNDFUNKS böse Folgen. Sein Vertrag, dessen Verlängerung anstand, wurde nicht erneuert. Und ich, der Autor, also der Urheber des Skandals? Wurde ich mit Sanktionen belegt? Im Gegenteil, Ich verdankte diesem Skandal meine erste literarische Auszeichnung, einen Staatspreis des Landes Baden-Württemberg. In der Jury, die über den Preis zu entscheiden hatte, saßen nicht nur der abgewählte Intendant des SDR, sondern Mitarbeiter des Senders und deren Kollegen, die sich für die Bösartigkeiten, die ihnen widerfahren waren, revanchierten, indem sie mich auszeichneten. Nicht anders erging es mir zehn Jahre später mit dem Film „Alma Mater“ (einem realistischen Abbild der Umtriebe der so genannten Studenten-„Bewegung“ an der Freien Universität Berlin) – als mich, diesmal nicht nur die orthodoxen Linken und ihre Sympathisanten, sondern auch ehrenwerte Liberale als Lumpen und Verräter an der progressiven Sache niedermachten.
Ich hatte vor allem das Glück, dass durch viele Jahre meine Vorgesetzten – Intendanten, Programmdirektoren - meine Widersetzlichkeit gegen den Zeitgeist nicht nur hinnahmen, sondern ermutigten.
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Noch einmal zurück zur „Hamburger Schule“ Wodurch oder womit hat sie sich das – Sie sagten „Gütesiegel“ - verdient? Was war ihr Konzept? |
Das Konzept der „Hamburger Schule“
M: Ich kann Egon Monk leider nicht mehr befragen, weiß also nicht, ob er vorab das Konzept seiner „Dramaturgie“ entwickelte, ehe er es in die Praxis umsetzte oder ob es sich als Ergebnis der praktischen Arbeit ergab. Ich bin aber sicher, dass die mir zugeschriebene Gründung der „Hamburger Schule“ nicht auf einem Plan gründete, auf einem Willensakt oder einem kollektiven Manifest.
Natürlich war es unausbleiblich, dass ich versuchte, meine Erfahrungen mit dem Medium auf die Redaktion zu übertragen, ich hätte es aber als absurd empfunden, gestandenen „Machern“ – Busch, Fechner, Schulze-Rohr, dem vom Theater zurückgekehrten Monk oder später Hädrich, Marcel Ophuls, dem Slowaken Barrabas (genialischem Außenseiter) oder Kehlmann und so weiter - dazu den Jungen, Petersen und Wedel ein Konzept aufzudrängen, dem sie sich widersetzt oder das sie nicht geteilt hätten.
Ich hatte erfolgreiche Fernsehspiele geschrieben, aber als ich bei Monks Abgang zum Theater ins kalte Wasser der Redaktionsleitung geworfen wurde, war ich, gemessen an ihm und den anderen Brecht-Schülern aus seinem Team, Autodidakt.
Die Hamburger Schule war das Ergebnis eines Prozesses von Trial and Error und ein Zusammentreffen glücklicher wie fataler Umstände; fataler Umstände, die sich später oft sogar als Glücksmomente herausstellten. Das Ausschlaggebende, um es vorwegzunehmen, war mutmaßlich ein Gemenge von Erfahrung und Lebensauffassung oder noch banaler, mein Temperament.
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Glücksumstände - ein Beispiel, bitte? |
Erster Glücksumstand: Wir kamen nicht zu früh, sondern gerade spät genug
M: Zuallererst der Zeitpunkt unseres Auftretens. Schon als Monk die Leitung der Abteilung übernahm, erst recht, als ich in die Redaktion eintrat, war das Fernsehen keine zehn Jahre alt, aber längst etabliert; die Kärrnerarbeit war geleistet. Wir hatten den Vorzug, während der zwei großen Jahrzehnte des deutschen Fernsehspiels präsent zu sein. Weder vorher, noch nachher hätten wir als „Dramaturgie“ oder „Schule“ auffallen können. Es ist zum Beispiel heute kaum noch nachvollziehbar, dass das Fernsehspiel des NDR in den siebziger Jahren in Hamburg als „Kulturfaktor“ galt. Fernsehspiel – das war - neben den politischen Magazinen – das Renommierstück im Schaufenster jedes Senders. hoch gehandelt, gefördert und scharf beäugt von Intendanten und Programmdirektoren.
Das Fernsehspiel – wie lässt es sich heute veranschaulichen – hatte seinerzeit einen Stellenwert wie heute nur noch die von den Sendern umworbenen Stars, wie Schmidt oder Beckmann oder Jauch und Delling.
Das müssen Sie mir ungeprüft abnehmen; ich kann keinen Beleg beibringen, aber es bleibt rückblickend eine Merkwürdigkeit: Zu einer Zeit, als das Fernsehspiel von der ungeschriebenen Öffentlichkeit mit besonderem Respekt und hoher Aufmerksamkeit wahrgenommen wurde, kam es in den großen Zeitungen noch kaum vor. Die fingen erst allmählich an, sich höchst zögerlich mit dem neuen Medium zu befassen. Abgesehen von ein paar verlässlichen Kritikern, die unsere Arbeit kontinuierlich begleiteten – Änne de Haas, Annemy Falkner, Polcuch, Delling, „Ponkie“, Seidel, Annerose Katz – wurden selbst die bedeutenden Produktionen der Pioniere eher zufällig besprochen, oft versteckt in Kolumnen, die das gesamte Wochenprogramm pauschal abhandelten. Während heute auf umfangreichen Medienseiten zwischen dem Tratsch und Klatsch und ausgiebigen Erörterungen über die Branche, jeder durchschnittliche TATORT oder manches halbseidene Melodram einer mehrspaltigen kritischen Exegese unterzogen wird. Aber noch einmal, bitte festhalten: Wir waren die Nutznießer der Anstrengungen der Pioniere, die zwar später noch zur Entwicklung des Fernsehspiels beitrugen, deren eigentliche Leistung aber nahezu in Vergessenheit geraten ist: Sie waren uns zwar nur um ein paar Jahre, tatsächlich um eine ganze Epoche voraus.
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Aber Sie gehörten doch zu diesen Pionieren. Ihr erstes Fernsehspiel... |
Sie meinen „Besuch aus der Zone“, 1958, als Autor, ja, aber ich profitierte von der Leistung der Pionier- Redakteure.
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Ist das für Sie so wichtig? |
Die Pioniere
M: Aber ja! Das Verdienst der Vorreiter bleibt – wenn ich nicht irre - zuerst Franz-Joseph Wild vom BAYERISCHEN RUNDFUNK; dann den Stuttgartern, den Kollegen des SÜDDEUTSCHEN RUNDFUNKS - Gottschalk, Pigge, Mezger, Wirth, Wolffhardt, Umgelter, - die von Anfang an, und zwar zu einer Zeit, als auf den Fernsehempfängern im „Briefmarkenformat“ vergleichsweise armselige Bilder flackerten, das Potenzial des neuen Mediums erkannten. Viele von Ihnen kamen nicht vom Rundfunk, sondern hatten Theater Erfahrung. Das war eine hilfreiche Voraussetzung, da sich das Fernsehspiel auch in Deutschland – wie schon in England (wo es sich konsequenterweise TV-Drama nannte) - vor allem aus dem Fundus des Theaters speiste, hier und da sogar nur als Ableger der Bühnenkunst verstanden wurde. Es gab zum einen anfangs einen Mangel an geeigneten zeitgenössischen (originalen) Drehbüchern. Zum anderen, gab es ganz praktische Umständ e, dass nämlich die „Spiele“ anfangs ausschließlich im Studio, mit schwer bewegbaren Kameras aufgezeichnet werden mussten. Ein Verfahren, das der Inszenierung eines Theaterstückes ähnelte.
Es waren die Stuttgarter, die dann dem originären Zeitstück, das später eigentlich als das Fernsehspiel galt, zum Durchbruch verhalfen. Der SDR strahlte schon 1958 meinen „Besuch aus der Zone“ aus, eine weitgehend an Originalschauplätzen gefilmte Produktion, die jene schon erwähnte hitzige öffentliche Debatte bis hinauf in den Bundestag auslöste. Im selben Jahr startete Jürgen Roland in Hamburg (noch ohne jede „Dramaturgie“ oder „Schule“, redaktionell betreut von Joachim Fest) seine „Stahlnetz“-Serie. Um eben diese Zeit entstanden beim HESSISCHEN RUNDFUNK in Frankfurt (Hädrich, Krapp) herausragende Fernsehspiele, ehe das Zeitstück (Monk, Hubalek) auch in Hamburg heimisch wurde.
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Ich fürchte, wir setzen zuviel voraus. Sollten wir nicht doch noch einmal zum Anfang zurück? Jüngere können beim besten Willen keine Vorstellung haben, wie das war, damals, als hinter den deutschen Wohnzimmerfenstern da und dort das bleiche Licht der Fernsehröhren aufleuchtete, wenn ich mich mal poetisch ausdrücken soll... |
Die Pionierzeiten des Fernsehspiels
M: Schon richtig, nur – wie lässt sich, angesichts der Trivialität, Allgegenwart, der (vermeintlichen) Allmacht des heutigen Fernsehens, das Umfeld heraufbeschwören, in dem sich die Pioniere bewegten. Sie waren Außenseiter, freundlich ausgedrückt. Zwar gab es aufmerksame Zuschauer, die sich bereitwillig dem neuen Medium zuwandten, mit einer unerhörten Aufmerksamkeit und Treue, gemessen an den unsteten Zappern von heute. Immer wieder treffe ich Menschen, die sich lebhaft erinnern als wäre es gestern geschehen, dass ihre Eltern ihnen damals gestatteten, bis in die Nacht aufzubleiben, damit sie im Kreise der vor dem Empfänger versammelten Familie und eigens geladener Gäste stundenlange Produktionen von klassischen Theaterstücken bis zum Ende verfolgen konnten. Und zwar nicht gelegentlich, sondern mit Regelmäßigkeit. Dann und wann auch schon zeitgenössische Stücke, die frühesten Auseinandersetzungen mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes, die am Theater noch kaum vorkamen: Aber diese dem Medium gegenüber aufgeschlossenen Zuschauer waren ja nicht die Regel. Mit dem pejorativ verstandenen Begriff eines Massenmediums belegt, war Fernsehen deutschen Bildungsbürgern noch lange ein Gräuel, man rühmte sich, in seinem Wohnzimmer kein TV-Gerät zu dulden.
Dieser Dünkel galt erst recht für die approbierte Kulturszene. Dort nahm man noch hin, dass das Fernsehen als eine Art Wohnzimmer-Wochenschau oberflächliche bebilderte Information frei Haus lieferte, aber als es sich anmaßte, eigens für das neue Medium hergestellte Kunst zu transportieren, reagierten die Feuilleton-Aristokraten mit Nichtachtung. Ihnen, auch den meisten Schriftstellern, erschien es als Zumutung, sich mit dem neuen Medium auch nur zu befassen. Allein seine Massenhaftigkeit machte es in ihren Augen kunstunfähig.
Dass ein junger Autor am Beginn einer womöglich vielversprechenden literarischen Karriere sich dem Fernsehen verschrieb, galt als nahezu obszön. Ich erinnere mich, dass der große Böll bei unserer letzten Begegnung mich anböllerte: „Meichsner, wann schreibst Du endlich wieder einen Roman?“ Die Fernsehspiele, die ich verfasst hatte, zählten nicht.
Dabei hatten dieselben Autoren einem anderen, einem technischen Massenmedium, dem Radio bereitwillig zugearbeitet. Ja, der Rundfunk sicherte einer ganzen Generation deutscher Nachkriegsliteratur die Existenzgrundlage. Aber erst recht den Hörspiel-Redakteuren erschien es als unzumutbar, sich mit den Kollegen des Fernsehspiels gemein zu machen. Man mied sie, - buchstäblich - in den Funkhauskantinen.
Eine erstaunliche Ausnahme gab es: Von allen Künstlern war es ausschließlich die Garde der ersten deutschen Schauspieler, die ohne Sorge um ihren guten Ruf (die Gage spielte damals durchaus keine Rolle) von Anfang an bereit war, sich in den Dienst des neuen Mediums zu stellen. Sie waren es vor allem, die dem jungen Fernsehspiel seine Würde gaben, von der es lange zehrte.
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Aber wir wollen die guten alten Pioniere nicht allzu sehr verklären... |
Herablassung gegenüber dem Fernsehen - ich auch
M: Vielleicht ist es ehrlicher, wenn ich an meine eigene Einstellung gegenüber dem frühen Fernsehen erinnere. Ich habe mich, wie die meisten meiner Kollegen über die Funk-Intendanten mokiert – und es waren seinerzeit Professoren, Schriftsteller, ein Dichter darunter! – die anlässlich der Eröffnung eines Fernsehkanals regelmäßig Goethe und das deutsche Bildungsgut zitierten.
Die hochgemute Gesinnung wirkte eher lächerlich angesichts der Armseligkeit des technischen Apparates, mit dem die Macher, die Pioniere, umzugehen lernen mussten.
Aber bitte, wenn ich erzähle, wie ich als kleiner Esel anfangs über den Murks und die Unvollkommenheit des Fernsehens dachte, immer im Kopf behalten, dass während dieser Jahre Franz Joseph Wild und seine Kollegen mit außerordentlichen Inszenierungen von Theaterklassikern tatsächlich längst eine massenhafte Kulturleistung vollbrachten: Sie machten Menschen, die vorher nie ein Theater von innen erlebt hatten, mit der großen Dramatik, mit der Weltliteratur vertraut. Nein, nein – das ist keine Verklärung.
Meinen ersten Auftritt im Fernsehen hatte ich schon früh, mutmaßlich 1953: Wir, das Studentenkabarett der Freien Universität Berlin, spulten lustlos unser Programm in einer Dachgeschoß-Mansarde in Berlin-Tempelhof ab, bei drückender Scheinwerfer-Hitze, in dem engen Kabuff des Versuchs-Studios, das mit Pferdedecken abgehängt war. Für uns – die wir schon in Berliner Theatern aufgetreten waren – war es nicht mehr als ein Joke, zu dem wir uns gönnerhaft bereit gefunden hatten.
Die nächste ganz und gar unerfreuliche Begegnung mit dem Fernsehen erlebte ich drei Jahre später: Ich war mit Tom Toelle von West-Berlin aus unterwegs in der Bundesrepublik, auf Recherchenreise und zu Tonaufnahmen für ein Radio-Feature
Wir beendeten unsere Rundreise im Städtchen Eschwege, wo wir ein Volksfest dokumentieren wollten. Wir waren als Leute vom Radio daran gewöhnt, entgegenkommend, wenn nicht bevorzugt behandelt zu werden. So auch in Eschwege, wo wir, das war uns selbstverständlich, vom Bürgermeister empfangen wurden, der uns seinen Beistand zusicherte.
Zwei Tage später, zum offiziellen Beginn des Festes, erschien unversehens ein Übertragungswagen des Hessischen Fernsehens. Von da an waren wir Radio-Menschen für die Eschweger nicht mehr vorhanden. Tom und ich trösteten uns mit der Gewissheit, dass wir mit diesem Medium, das nur die flache Oberfläche abzubilden imstande sei, während wir, im Radio, ins Essentielle, in die Tiefe eines Geschehens eindrangen, nichts zu schaffen haben wollten. Ein halbes Jahr später fragten Pigge und Gottschalk vom Stuttgarter Sender an, ob ich mit einer Bearbeitung meines Hörspiels „Besuch aus der Zone“ fürs Fernsehen einverstanden sei. Mutmaßlich hätte ich, ohne ihr Interesse, noch lange Jahre auf das Fernsehen hinabgeblickt. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Schriftsteller-Kollegen ist es ja bekanntlich bei der Verachtung gegenüber dem Massenmedium geblieben.
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Sie glauben nicht, dass es für diese Haltung gute Gründe gab? |
M:Aber ja – gab und gibt - heute erst recht. Ich vermute, dass die Distanz von Schriftstellern vor allem auf dem Missverständnis beruht, dass im Fernsehen – im Gegensatz zum Radio - die Sprache eine geringe, jedenfalls gänzlich untergeordnete Rolle spiele. In Wahrheit ist das Gegenteil richtig – selbst wenn angesichts der heutigen TV-Wirklichkeit meine Behauptung absurd erscheint, bleibe ich dabei. Die Wichtigkeit der Sprache im TV hat wiederum mit der engen Verwandtschaft von Fernsehspiel und erzählender Literatur, mit dem Roman zu tun.
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Dann noch einen Schritt zurück: Es hörte sich eben so an, als dächten Sie heute milder über das Bildungs-Pathos der Intendanten oder über Professor Holzamers Vorstellung vom Fernsehen als einer Volkshochschule? |
Professor Holzamer und das Fernsehen als Volkshochschule
M: Wir haben uns, ich mit, seinerzeit zu unrecht über Professor Holzamer erhoben. Er wurde wegen dieses Begriffs damals zu Unrecht bespöttelt. Auch von uns, von mir. Das habe ich aber erst viel später begriffen. Dort, wo es seinen Bildungs- oder Volkshochschul-Auftrag erfüllt, leistet das Fernsehen noch heute Unersetzliches. Freilich selten beim Infotainment oder beim Fernsehfilm in den Hauptprogrammen, schon gar nicht mit den unzähligen Talk-Shows. Aber noch oft genug spät abends oder am Rande seiner Neben-Kanäle (3sat, Phönix, Bayern alpha und so weiter) mit Reportagen, Reiseberichten, Ratgebersendungen, Wissenschaftsmagazinen, ausgiebigen gelassenen Interviews. Aber ich habe mir vorgenommen, mich nicht über den Ist-Stand des Fernsehens zu äußern. Er hat mit dem Medium, dem ich viele Jahre zuarbeitete, kaum noch etwas zu schaffen. Ein Kollege, der nicht mehr lebt, hat den Unterschied einmal auf fünf Worte gebracht: „Es ist ein anderes Genre.“
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Es wird sich nicht vermeiden lassen, gelegentlich vom Ist-Stand auszugehen, um den Unterschied gegen damals kenntlich zu machen. Aber wir wollten noch einmal zu den Voraussetzungen zurück. Sie sprachen von Glücksmomenten - im Plural. Als einen dieser Glücksumstände nannten Sie die Tatsache, dass Sie zum richtigern Zeitpunkt auftraten, nicht zu früh, nicht zu spät... |
Weiteres Glücksmoment: Die identischen Lebenserfahrungen der Fernsehspiel-Macher
M: Ein Moment, das wir Hamburger mit fast allen übrigen Reaktionen teilten: Wir waren eines Alters, abgesehen von den wenigen Älteren, die den Krieg als Soldaten mitgemacht hatten, waren unsere Erfahrungen nahezu identisch: Wir hatten, als Heranwachsende eben noch bewusst die nationalsozialistische Diktatur und ihre Agonie erlebt; bald darauf, noch mitten im schönen Traum des Friedens und des Nie wieder! widerfuhr den meisten von uns die zweite Desillusionierung: Die Wirklichkeit des Sozialismus, des kommunistischen Regimes in der sowjetischen Besatzungszone (DDR).
Diese doppelte Erfahrung entschied auf immer unsere skeptische Einstellung gegenüber Allwahrheiten, Dogmen und unumstößlichen Glaubenssätzen.
Zweite übereinstimmende Erfahrung: Wir hatten die unter der NS-Diktatur verfemte Literatur in uns hineingefressen, die wir nur aus zufälligen Bruchstücken kannten. Und wir hatten staunend den Atem der Welt eingesogen, der nach 1945 durch die weit aufgerissenen Fenster zu uns hereinwehte: Das Theater in London, in Paris, die Literatur und die Musik der Vereinigten Staaten. Von dort und aus Großbritannien stammte auch das Fernsehen.
Ich war mir seit jeher sicher, unlängst haben es mir zwei ehemaligen Kollegen, die ich deswegen befragte, bestätigt: Unsere Erfahrungen, die Ergebnisse unseres Lernprozesses sickerten – wie häufig bei Bekehrten - in alles ein, was wir dachten, schrieben, inszenierten, produzierten. Das heißt, auch in die Arbeiten, die sich nicht unmittelbar mit der jüngsten Vergangenheit oder dem aktuellen politischen Umfeld befassten.
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Holzamer, Volkshochschule, Bildungsauftrag, politisch-literarische Aufklärung. Sie verstanden sich ein Bisschen als Missionare - nehmen Sie es mir nicht übel... |
Missionare, aber ja – warum eigentlich nicht?
M: Nicht nur ein Bisschen! Und was ist daran übel zu nehmen? Das Fernsehen als Massenmedium betrachteten wir als eine Herausforderung, wie für uns geschaffen, um die Botschaften, deren Verbreitung uns am Herzen lag, an möglichst Viele, eben an die Massen weiterzugeben, weitaus wirkungsvoller noch, als es uns beim Radio möglich gewesen war. Jedenfalls war das meine Überzeugung, nachdem ich vom Radio-Saulus zum TV-Paulus mutiert war.
Sicher hat es im Rückblick etwas Rührendes, wie wir versuchten, unsere Mitmenschen aufzuklären. Ich selbst bin nie so weit gegangen wie Monk und die Brechtianer, die wohl tatsächlich auf die Möglichkeit einer Bewusstseinsveränderung durch das neue Medium setzten; aber ich war fest überzeugt, wir könnten dazu beitragen, Zeitgenossen in mündige Bürger zu verwandeln.
Und wir predigten ja beileibe nicht das Schlechteste, vielmehr den Widerspruch gegen Willkür und Übermacht, Zweifel an unumstößlichen Wahrheiten, für die komplizierten Praktiken der Demokratie, der Gewaltenteilung, Toleranz gegenüber Außenseitern. Mutmaßlich haben wir damit tatsächlich unseren Beitrag geleistet zu jener „größten Leistung unserer Generation“, die Habermas darin sieht, dass sie „die Bundesrepublik der politischen Kultur des Westens geöffnet“ habe, will sagen: einer politischen Kultur der praktischen Vernunft, des Maßes, der Nüchternheit ohne weltanschauliche Verstiegenheiten.
Die Übereinstimmung dauerte allerdings nur solange, bis nicht wenige Kollegen auf dem Fliegenleim der 68er-„Bewegung“ eine neue weltanschauliche Haftung fanden und Andersdenkende nicht länger als politische Gegner, sondern als verachtenswerte Feinde oder Dummköpfe behandelten. Das war nur eine der üblen Folgen dieser verschwiemelten deutschen Aufwallung, die sich bezeichnenderweise selbst eine Bewegung nannte.
Aber zurück zu den Missionaren: Wir predigten ja nicht ausschließlich politisch. Ich kann auch im Rückblick nichts Anstößiges daran finden, dass wir versuchten, die Qualität der Literatur, den Reichtum des Theaters, der dank unserer Biographien auf uns gekommen war, mit vollen Händen an die weiterzuverschenken, die dieses Glück nicht gehabt hatten. Natürlich gab es unterschiedliche Auffassungen über die geeigneten auch künstlerischen Mittel dieser – bleiben wir ruhig dabei - Missionsarbeit.
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Was waren die Mittel der Fernsehspielabteilung des NORDDEUTSCHEN RUNDFUNKS. Kommen wir endlich zur „Hamburger Schule“? |
Noch ein Glücksumstand:Neun Sender, neun Fernsehspielabteilungen
M: Gleich, noch bleiben wir bei den Voraussetzungen: Ein weiterer Glücksumstand war die Tatsache, dass ja nicht eine, zentrale, steuernde Dramaturgie der ARD existierte, sondern dass die neun Redaktionen der neun Sender, bald als zehnte die des ZDF, (das Fernsehspiel des DDR-Fernsehens mussten wir ja auch im Auge behalten) unabhängig voneinander ihre Vorstellung von Fernsehspiel und ihre Spielpläne entwickelten. Aus dieser Vielzahl von Redaktionen mit ihren unterschiedlichen Temperamenten entwickelte sich erstens eine produktive Arbeitsteilung. Nur ein Beispiel: Vor allem der BAYRISCHE RUNDFUNK, aber auch andere Redaktionen behandelten weiterhin, durch die Jahre, die Inszenierung oder die Aufzeichnungen von Theaterstücken als Schwerpunkt ihres Programms. Das hatte für uns den Vorteil, dass wir – getreu dem Anspruch unserer „Schule“ - auf Theaterproduktionen eher verzichten und uns, ähnlich wie der WDR, auf die Entwicklung des originären Zeitstückes konzentrieren konnten.
Zweitens – und das war für die Entwicklung des Fernsehspiels in Deutschland noch weit wichtiger – ergab sich aus der Vielzahl an Fernsehspiel-Redaktionen ein kollegialer Wettbewerb, um Erfolg bei der professionellen Kritik, um Preise, um öffentliches Renommee, aber auch um Zuschauerzahlen (sie nannten sich nur noch nicht „Einschaltquote“), ein Wettstreit, dessen Schärfe sich heute jene Redakteure nicht vorzustellen vermögen, die uns vorhalten, wir hätten es - im Gegensatz zu ihnen, die sich in erbitterter Konkurrenz mit den Privaten behaupten müssen - leicht gehabt, da ja die Zuschauer seinerzeit hätten fressen müssen, was wir ihnen vorwarfen. Ein Unfug mehr, um die sinkende Qualität der Produktionen zu rechtfertigen. Aber ich habe mir geschworen, nicht zu polemisieren.
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Immerhin werden Sie einräumen, dass Sie in der Wahl ihrer Stoffe, der Inhalte und Formen freier waren als die Redakteure heute, Sie waren nicht gezwungen, an die Quantität der Zuschauer zu denken. Jedenfalls nicht in erster Linie. |
Der Vorwurf gegen das frühe Fernsehspiel: Elitäre Willkür, zuviel Kunst, zu wenig Unterhaltung?
M: Die Vorhaltung ist nicht neu. Man hat uns schon damals elitäre Willkür vorgeworfen; wir hätten uns um der „Kunst“ willen, oder was wir dafür hielten, über die Erwartungshaltung der Mehrheit unserer Zuschauer hinweggesetzt. So wurde es uns noch in den siebziger Jahren von unseren Programmoberen vorgeworfen. Sie befanden unsere Programme als zu problemlastig, zu sperrig, zu düster, nicht zuschauerfreundlich genug. Im Auftrag der so genannten „Koordination Fernsehspiel“ habe ich daraufhin einmal ein Quartal des Fernsehspiel-Programms der ARD auf die Stichhaltigkeit dieser Vorhaltung hin untersucht.
Zu meiner eigenen Überraschung stellte sich heraus, dass zwar sperrige und düstere Programme tatsächlich überproportional häufig vorkamen, dass sie aber – entgegen den Erwartungen der Programmdirektoren - erstaunlich hohe „Einschaltquoten“ erzielt hatten, während mutmaßliche Erfolgsnummern, harmlose Seichtigkeiten, beim Publikum durchgefallen waren.
Nun wäre es aufschlussreich, heute noch einmal zu untersuchen, ob sich das Publikumsverhalten gegen damals tatsächlich verändert hätte, wie behauptet wird. Oder ob die Zuschauer auch heute auf sperrige Stücke womöglich so positiv wie damals reagierten? Man wird es nicht erfahren, weil man dem Publikum sperrige oder düstere Stücke heute in der Regel gar nicht mehr anbietet.
Man müsste dann freilich auch fragen, ob sich nur die Zuschauer-Erwartung gegen damals verändert hätte oder aber – wofür viel spricht - die Zusammensetzung des Publikums. Man würde womöglich entdecken, dass unsere damalige verlässliche „Stammkundschaft“ das Fernsehen als Informations- oder Kultur-Medium längst nicht mehr ernst nimmt, sondern es aus nachvollziehbaren Gründen abgeschaltet hat, außer zur sporadischen Nutzung und Zerstreuung (Nachrichten, Fußball, Krimi).
Verachtete Unterhaltung
Andererseits war die Vorhaltung, das Fernsehspiel hätte zu wenig auf das so genannte Zuschauerbedürfnis Rücksicht genommen, nicht schlichtweg falsch. Es bestand in Deutschland zu der Zeit noch der nahezu unüberbrückbare Graben zwischen „Dichtung“ oder „ernstzunehmender“, „anspruchsvoller“ Literatur und der bloß vulgären „Unterhaltung“, der Trivialliteratur oder dem „bloßen Journalismus“.
(Einer meiner Kollegen erinnerte mich kürzlich daran, dass ihm in den fünfziger Jahren an der Universität München erst nach einem Bittgang zum Dekan gestattet wurde, im Fach Germanistik über Tucholsky zu promovieren.)
Es kann also nicht überraschen, dass der Begriff „Unterhaltung“ auch unter vielen unserer Fernsehspielkollegen (nicht wenige von ihnen promovierten Germanisten), erst recht aber unter den professionellen Kritikern etwas nahezu Anrüchiges an sich hatte.
Ich erinnere mich, dass Reinhard Müller-Freienfels, Chef des Stuttgarter Fernsehspiels sich noch Mitte der siebziger Jahre rechtfertigen musste, weil sein Sender eine (von Tom Toelle äußerst delikat inszenierte) TV-Version von Courths-Mahler-Romanen ins Fernsehspiel-Programm aufgenommen hatte. In einem „progressiven“ TV-Lexikon wird ihm bis heute vorgehalten, er habe damit „die Wendung“ des Fernsehspiels „zur Unterhaltung und zur Nostalgie eingeleitet.“
Das galt als Sünde wider das „anspruchsvolle“ Fernsehspiel. Die Unterhaltung überließ man den Kollegen der dafür zuständigen Hauptabteilung, die ja auch so hieß, nämlich „Unterhaltung“.
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Sie sahen es in Hamburg anders? |
Wir haben in Hamburg die Unterhaltung ernst genommen; wir haben es uns mit dem Leichten besonders schwer gemacht.
M: Eine Bemerkung voraus: Wir waren anfangs nicht die Einzigen, blieben aber auf Dauer die Ausnahme, in der Überzeugung, die ich mit Egon Monk teilte. Der Überzeugung oder Gewissheit, es ließe sich - in deutlicher Distanz zu Traumfabrik und Filmindustrie (vor allem zum damaligen, zur Heimatklamotte heruntergekommenen deutschen Kino) - eine neue, zeitgemäße eigenständige, ebenbürtige erzählerische Gattung begründen, im Schnittpunkt von Theater, Literatur und Journalismus.
Das war das eine: Weiter bedurfte es auch keiner ausdrücklichen Übereinkunft: Ich war von Anfang mit Monk und den Kollegen in der Redaktion der Meinung, dass diese Gattung Fernsehspiel wie keine andere dazu beitragen könnte, den Graben, von dem wir eben sprachen, die traditionelle Kluft zwischen Dichtung oder „anspruchsvoller“ Literatur und der trivialen „Unterhaltung“ einzuebnen. Aber nicht etwa, indem wir die Qualität von Literatur auf ein möglichst mühelos konsumierbares Niveau absenkten, sondern – im Gegenteil –indem wir den Standard der so genannten Unterhaltung anhöben. Darum haben wir von Anfang an die Unterhaltung todernst genommen, wenn Sie mir das Paradoxon gestatten.
Zweitens: Alle Zuschauer waren Gebührenzahler, sie alle hatten damit auch den Anspruch erworben, dass ihre unterschiedlichen Erwartungen – auch die, unterhalten zu werden - von uns so sorgfältig wie möglich bedient würden.
Diese Auffassung wurde seinerzeit von den Kollegen der anderen Redaktionen keineswegs durchweg geteilt. Ich erinnere mich, dass der Fernsehspielchef des größten Senders anlässlich eines Gesprächs nach meiner Pensionierung – also 1991 (!) sich respektvoll verwunderte, er habe sich oft gefragt, warum ich mich schon seit jeher für den Zuschauer interessiert hätte.
So sorgfältig wie möglich bedienen bedeutete aber nichts Anderes, als dass wir die Regeln (oder ungeschriebenen Gesetze) der Hamburger Dramaturgie oder Schule ebenso wohl auf die so genannten „anspruchsvollen“, als auf die „nur“ unterhaltenden Produktionen anwandten.
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Entschuldigen Sie, aber worin bestanden diese Regeln? |
Soviel Realität wie möglich, nur soviel Kintopp wie unvermeidlich - Es muss stimmen
M: Unsere Vorstellungen einer unverschminkten Wirklichkeitsbeschreibung sind so oft beschrieben worden, dass ich sie vorausgesetzt habe, aber sie seien noch einmal genannt: Bezog Monk sich auf Brecht –„ Die Wahrheit ist konkret“ - habe ich es praktischer formuliert: Soviel Realität wie möglich, nur soviel Kintopp wie unvermeidlich.dazu eine Forderung Theodor Fontanes - wenn man so will – einer der Glaubenssätze der „Hamburger Schule“: „Es muss stimmen.“Dieser leicht hingesagten, tatsächlich aber mühseligen und anspruchsvollen Forderung suchten wir für das „anspruchsvolle“ Zeitstück genauso wie für die „Unterhaltung“ Geltung zu verschaffen.
„Soviel Realität wie möglich, nur soviel Kintopp wie unvermeidlich“ oder „Es muss stimmen“ bedeutete ja auch, dass keines unserer Stücke in einem unverbindlichen Nirgendwo, in einer Scheinwelt angesiedelt sein sollte, sondern in einem realen, gesellschaftlichen Umfeld. Der Groschenroman als bloßer Zeittotschlag galt uns tabu.
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Aber da ist es wahrscheinlich doch notwendig, erst einmal die Begriffe zu klären – was verstehen wir unter „Unterhaltung“ und wie definieren wir das Gegenteil davon, also „ernsthaft“ oder „zeitkritisch“, „anspruchsvoll“, oder wie unterschieden Sie zwischen dem – eben sagten Sie - „anspruchsvollen Zeitstück“ und der „Unterhaltung“? |
Wir unterschieden nicht zwischen Anspruch und Unterhaltung
M: Was die dramaturgische Arbeit angeht, gab es für uns keine Unterscheidung. Nach Monks Auffassung (im Sinne Brechts) sollte auch oder gerade das kritische, anspruchsvolle Stück unterhalten. Ob es denn am Ende tatsächlich so unterhaltend war, wie behauptet, steht auf einem anderen Blatt. Ich sah es ähnlich wenn auch keineswegs brechtianisch und viel weniger dogmatisch, sondern als Ergebnis eines Lernprozesses. Ich habe immer ein Misstrauen gegen „bronzene Sätze“ oder eiserne Grundsätze empfunden. Sie lassen sich bekanntlich leicht formulieren, aber nur schwer verwirklichen.
Noch einmal: Es hatte diese Einstellung sicher auch etwas mit dem Respekt vor dem Zuschauer zu tun. Ich habe wiederholt behauptet, das sattsam zitierte „Lieschen Müller“ sei eine Erfindung zu fauler Dramaturgen.
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Sollen wir es wirklich so hingehen lassen oder sollten wir nicht doch versuchen, einen Unterschied zu definieren, zwischen dem, was wir der Einfachheit halber „Unterhaltung“ nennen und... |
M: Ich warne davor, weil wir in semantische Schwierigkeiten geraten, allein um mit dem permanenten Bedeutungswandel von scheinbar eindeutigen Begriffen wie „unterhaltsam“, „anspruchsvoll“ oder „ernsthaft“ Schritt zu halten. Nur ein Beispiel: Vor kurzem las ich ein Interview mit zwei Filmproduzenten, die sich zweier von ihnen produzierter „anspruchsvoller“ Kinofilme rühmten, „Lola rennt“ und „Good bye, Lenin“. Nun wäre seinerzeit „Good bye, Lenin“ als ein Stück gelungener, meinetwegen „anspruchsvoller“ Unterhaltung, durchgegangen, trotz seiner zahlreichen Unstimmigkeiten und Detailungenauigkeiten. Die für einen Kinofilm (wie „Good bye...“) ohnehin keinen Makel darstellen, da es auf Detailgenauigkeit – die das Kennzeichen von Fernsehspielen sein sollte, - beim Kinofilm nicht ankommt; er ist ja darauf angelegt, über die Realität hinauszuschießen.
Wer aber „Lola rennt“, ein hübsches Nichts, eine Art Talentprobe eines Filmhochschul-Absolventen in unserem Kreis als „anspruchsvoll“ bezeichnet hätte, wäre nicht ernst genommen worden.
So wie – andersherum - die scharfen, publikumswirksamen Satiren der bundesdeutschen Gesellschaft von Horst Lommer, die längst zum dauerhaftern Bestand des Hamburger Spielplans zählten, als ich dort zur Redaktion stieß oder Robert Strombergers „Unverbesserliche“ heute nicht als „Unterhaltung“ abgetan, sondern als „ernsthafte“ Zeitstücke behandelt würden.
Beide passten übrigens vorzüglich in die „Hamburger Dramaturgie“, ebenso gut in die „Schule“. So ließe sich anhaltend und per definitionem über die Gründe streiten, für die Sorgfalt, mit der sich die „Hamburger Schule“ der so genannten „Unterhaltung“ annahm. Wenn in Wahrheit nicht ein gänzlich banaler Grund den Ausschlag gegeben hätte:
Praxis statt Theorie:Ich fand keinen John Olden.
Es mindert nicht im Geringsten Egon Monks Verdienst, wenn man sich erinnert, dass er durch alle Jahre beim NDR John Olden an seiner Seite hatte (ehemaliger englischer Besatzungsoffizier, Mann von Inge Meysel), der die Mehrzahl der „unterhaltenden“ Produktionen auf eigene Faust entwickelte. Er war es zum Beispiel, der Stombergers „Unverbesserliche“ entdeckte – so dass Monk sich auf das anspruchsvolle Zeitstück, konzentrieren konnte.
Ich wurde zwanzig Jahre lang daran erinnert, was diese Entlastung für Monk bedeutet haben muss, weil ich mich eben diese zwei Jahrzehnte lang um einen Ersatz für Olden bemühte. Geschätzte Kollegen, denen ich eine Dramaturgen-Stellung anbot, waren nur zu gern bereit, zuzusagen; sobald sie aber erfuhren, welchem Genre – eben der „Unterhaltung“ - sie in erster Linie zuarbeiten sollten, winkten sie ab. Klassische Antwort eines von ihnen: „Ein Manuskript von Robert Stromberger fasse ich nicht an!“
1968 geriet während der Mai-Unruhen in Paris Marcel Ophuls (Sohn von Max Ophuls) in Konflikt mit dem französischen Fernsehen. Er hatte sich uns zwar mit einem eindrucksvollen Stück („Hundert Jahre Frieden“) über das Münchener Abkommen als Dokumentarfilmer empfohlen; ich kannte aber eine wunderbare Kino-Komödie von ihm (mit der Moreau, mit Gert Fröbe und Belmondo), die er vorher gedreht hatte. Ich witterte den gegebenen Olden-Nachfolger. Es genügte eine telefonische Verständigung mit unserem damaligen Programmdirektor Dietrich Schwarzkopf, der zwar die Komödie nicht kannte, aber „Hundert Jahre Frieden“ schätzte, um die Personalie zu entscheiden. Zwei weitere Telefonate reichten aus für eine bindende Verabredung – zehn Jahre später hätte es für einen ähnlichen Vorgang achtzehn Unterschriften auf ebenso vielen Schriftstücken gebraucht.
Ophüls stieß denn also zu uns. Meine Hoffnung aber hatte getrogen; er produzierte – von einem Sascha Guitry abgesehen - von nun an ausschließlich politisch-historische Dokumentarfilme, mit denen er zwar zum internationalen Ansehen der Abteilung beitrug. Beim „unterhaltenden“ Fernsehspiel, für das ich ihn angeheuert hatte, ließ er mich aber im Stich.
Wieder Glücksumstand: Der Dokumentarfilm als Fernsehspiel
Andererseits ist das, wenn Sie so wollen, verfehlte Engagement des Marcel Ophüls zugleich ein Exempel für einen jener fatalen Umstände, die sich ohne mein Zutun in Glücksmomente verwandelten: Als die sich stetig verkürzende Finanzdecke zur Folge hatte, dass wir fast alle wichtigen Regisseure (und mit ihnen die gewissermaßen sicheren Nummern unseres Spielplans) - Fechner, Monk, Wedel - an den Konkurrenten ZDF verloren, weil wir die Mittel für ihre kostenintensiven Projekte nicht mehr aufzubringen vermochten, kam uns Ophüls’ Vorliebe zupass: Zwar hatte die Fernsehspielabteilung schon zu Monks Zeiten (Redaktion Hans Brecht) Dokumentarfilme angekauft und auch produziert (Wildenhahn), aber mit den Filmen von Ophüls, („La Pitie et le Chagrin, eine französische Stadt im Kriege“), von Fechner „Klassenphoto“, „Comedian Harmonists“,von Max H. Rehbein „Lefty“, „Marathon in New York“, „Ein Mann in Eile“ – das New York Tryptichon, von Hans Brecht„OperationGomorrha“ und andere, wurden wir aus blanker Not zu einer der ersten Adressen des Dokumentarfilms. Von Ressort wegen hätten sie eigentlich beim Fernsehspiel nichts zu suchen gehabt, denn selbst aufwendige Dokumentarfilme waren wesentlich kostengünstiger herzustellen als das preiswerteste Fernsehspiel. Wir haben sie aber gegenüber Kritik und Öffentlichkeit als eine neue, besondere ästhetisch eigenartige Form des Fernsehspiels verkauft. So verschaffte uns der Dokumentarfilm einen unverhofften Etatausgleich.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als selbst zu versuchen, Olden zu ersetzen
Kurzum, die Vergeblichkeit meines Bemühens, einen Olden-Nachfolger zu finden, der sich des „unterhaltsamen“ Fernsehspiels angenommen hätte, zwang mich durch die Jahre, mich mit dem von vielen Kollegen weiterhin über die Schulter angesehenen Genre selbst viel stärker zu befassen als ich ursprünglich beabsichtigt hatte. Mit der Folge, dass ich die Entwicklung solcher „Unterhaltungs“-Stoffe keineswegs mit der linken Hand, sondern mit derselben Intensität betrieb wie die von so genannten anspruchsvollen Stücken. Dieter Wedel hat mich später einmal daran erinnert, dass wir seine ersten „unterhaltenden“ Drehbücher tagelang, Satz für Satz, durcharbeiteten.
Der Aufwand, der heute undenkbar wäre (bei der Serienfertigung ist ja inzwischen von „industrieller Produktion“ die Rede), lohnte sich: Jene unterhaltende Mischform von aktuellen Inhalten, spannenden Geschichten, bewegenden Schicksalen, und bis auf die dritte Stelle hinter dem Komma stimmenden konkreten Informationen blieb durch die Jahre ein Kennzeichen der „Hamburger Schule“. Das erste, nahezu makellose Beispiel war Dieter Wedels „Einmal im Leben“, ein Dreiteiler über eine kleine Familie, die sich den Traum vom Eigenheim erfüllt. In „Alle Jahre wieder“ schickte Wedel dieselbe Familie in einen abenteuerlichen Winterurlaub und verschaffte den Zuschauern einen getreulichen Blick hinter die Kulissen der Tourismus-Industrie. „ PS“ (Robert Stromberger) erzählte in vielen Folgen von der Realität eines Autohauses. Mit der tschechoslowakischen Serie„Das Krankenhaus amRande der Stadt“, deren erste Staffel der NDR kaufte, um sie dann in Koproduktion mit Prag in einer zweiten Staffel fortzusetzen, trat die „Hamburger Schule“ – nach dem Bekunden des Produzenten Rademann – die Lawine der Ärzte- und Klinik-Serien los. Nur dass keine jener späteren Ärzte-Serien auch nur annähernd an den Realismus von „Das Krankenhaus am Rande der Stadt“ heranreichte.
Die Stücke von Helga Feddersen über Seemannsfrauen,„Zehn Stunden von Elbe Eins“,„Im Fahrwasser“ und Gezeiten“- die heute kein Kritiker als bloße „Unterhaltung“ abtun würde, gehören ebenso in diese Reihe wie Felix Mitterers „Die fünfte Jahreszeit“ (über die Geschichte des Skisports von Anbeginn bis in unsere Tage der Pisten-Industrie) oder Mitterers „Piefke-Saga“ über die Hassliebe der Österreicher zu den deutschen Touristen. Dazu sollte man auch Berengar Pfahls Filme zählen, unglaublich genaue Beobachtungen von Heranwachsenden in der Bundesrepublik der siebziger und achtziger Jahre, „Britta“oder „Jerusalem, Jerusalem“.
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Entschuldigen Sie, Herr Meichsner, dass ich an der Stelle auf die Bremse trete; an einige der Titel, die Sie aufzählen, kann ich mich sogar erinnern, ich erinnere mich sogar an einen Kollegen, in der Wolle gefärbten deutschen Intellektuellen, der über Wedels „Einmal im Leben“ - sagte: Ja, das ist Unterhaltung, die man sich ansehen darf, ohne sich schämen zu müssen. |
M: Weniger ein Urteil über den Film als ein Beispiel für die verdrehte Einstellung deutscher Intellektueller...
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Mag sein, aber ich wollte auf etwas Anderes hinaus: Es hörte sich zuletzt so an, als hätten Sie sich nicht nolens volens um die so genannte Unterhaltung kümmern müssen, weil Sie keinen John-Olden-Ersatz fanden, sondern als hätte ihre ganze Leidenschaft in erster Linie der Perfektionierung unterhaltsamer Fernsehspiele gegolten. Moment, bitte! es ist zwar richtig und wohl auch immer wieder beschrieben worden , dass Ihr Qualitätsfetischismus keinen Unterschied machte zwischen einer, sagen wir, Literaturverfilmung und einem TATORT; aber ich kann mir nicht vorstellen, dass - wenn es darauf ankam - Ihr Herz nicht intensiver an der Vervollkommnung eines „anspruchsvollen“ Films wie „Erinnerung an einen Sommer in Berlin“ (Hädrich) hing als etwa an „Schnitzeljagd“ von Pfahl.
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Über Qualitätsfetischismus oder
„Allein im Detail stecken Unmittelbarkeit und Wahrheit“
M: Tut mir leid, dass ich Ihnen widerspreche, aber mein Qualitätsfetischismus, wie Sie es freundlicherweise nennen, schlug an bei jedem Gegenstand, mit dem ich jeweils befasst war, TATORT oder Literaturverfilmung.
Mutmaßlich gilt dies auch für meine eigenen Stücke. Sie könnten fragen, was mir im Nachhinein wichtiger erscheint: „Wie ein Hirschberger Dänisch lernte“ (noch nach vierzig Jahren das Lieblingsstück von Siegfried Lenz),„Alma Mater“oder irgendein Titel aus der Zollfahnder-Reihe„Schwarz Rot Gold“ - und ich vermöchte Ihnen nicht kurz und bündig zu antworten.
Oder andersherum gefragt: Welches meiner Stücke würde ich am wenigsten missen wollen?
„Novemberverbrecher“womöglich, das formal ungewöhnlichste aller Spiele, mit dem wir (gemeinsam mit einem Fachhistoriker) nachwiesen, dass es sehr wohl möglich sei, auch im Fernsehen mit allen ausgepichten Mitteln des Mediums, aber ebenso wohl wissenschaftlicher Akribie historische Sachverhalte auszubreiten.
Aber nehmen Sie mich nicht beim Wort. ich könnte Ihnen genauso gut ein paar Titel aus der Reihe„Schwarz Rot Gold“ nennen, obwohl es sich ja nur um Unterhaltung, ja, lediglich um Krimis handelt. Die achtzehn Stücke der Reihe (oder mindestens fünfzehn von ihnen) waren übrigens das Ergebnis eines jahrzehntelangen Verzichts. Aber das erzähle ich zum Schluss.
Nein, ich habe für „Schwarz Rot Gold“ nicht etwa nachlässiger recherchiert als für meine so genannten anspruchsvollen Arbeiten. Man hat mir deswegen einerseits (freundlicherweise) „wissenschaftliche Gründlichkeit“, andererseits (nicht ohne Häme) „Detailhuberei“ zugeschrieben. Diesen Begriff habe ich aber nicht als Schelte, sondern als Ehrenbezeigung empfunden. Detailgenauigkeit oder, meinetwegen, Detailhuberei entsprach ja exakt Stendhals erzählerischem Anspruch: „Im Detail! Allein im Detail stecken Unmittelbarkeit und Wahrheit.“ Eine Forderung, die Fontanes Maxime: Es muss stimmen! ja noch steigert.
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Sie wollen sagen: Stendhal als ein weiterer Urahn der „Hamburger Schule“? |
„God is in the details!“
M: Beileibe nicht nur Stendhal. Könnte Ihnen zahllose Belege für die Bedeutung des Details für jede Kunstform beibringen. Erst dieser Tage stieß ich auf die emphatische Beschwörung eines amerikanischen Musikindustrie-Kenners, der - bezogen auf die Praxis von Musikaufnahmen - Stendhals Forderung noch verschärft: „God is in the details“. Um unmittelbar sein Urteil über den gegenwärtigen Zustand der Pop-Musik-Industrie anzuhängen „But there are no details anymore.“ Ich übersetze: „Aber Details interessieren keinen mehr.“ Eine Klage, in die ich im Blick auf die Entwicklung des Fernsehspiels (neuerdings Fernseh film genannt) einstimmen könnte. Vorausgesetzt, dass wir auch dieses Kapitel noch streifen wollen. Ich will eigentlich nicht.
Unbedingte Detailgenauigkeit war nicht allein ein Kennzeichen der „Hamburger Schule“, sondern des deutschen Fernsehspiels in seinen großen Jahren. So sind – beileibe nicht nur in Hamburg – detailgetreue realistische Fernsehspiele entstanden, unbedingt stimmige Darstellungen aus der Zeit des „Dritten Reiches“ ebenso wie Zeit-Zeugnisse aus den Nachkriegsjahren, glaubwürdige, verlässliche Abbilder einer Epoche, für immer vorzeigbare gültige, verlässliche „Dokumente“. Kein Zweifel: Die verhängnisvolle jüngste deutsche Geschichte und die ersten fünfzig Jahre der Bundesrepublik lassen sich an den deutschen Fernsehspielen beispielhaft dingfest machen.
Oftmals werden diese Stücke heute von der professionellen Kritik herablassend als bloße „Zeitdokumente“ abgetan. Als mangelte es ihnen – neben einem gewissermaßen dokumentarischen Wert - an ästhetischer Qualität. Das Diktum spricht aber nicht gegen die fraglichen Produktionen, sondern gegen die Kritiker.
Kritiker, die ihr Gedächtnis nicht verloren haben, erinnern selten genug, aber gelegentlich doch daran: So rühmte einer von Ihnen – in der Besprechung einer Hollywood-Produktion über den 20. Juli, in der er auch alle früheren deutschen Verfilmungen dieses Tages aufzählte - die„Operation Walküre“ (Buch: Pigge; Regie: Wirth; BAVARIA für den WDR) aus dem Jahr 1971 als die mit Abstand Zuverlässigste, Authentischste, Gelungenste.
Oder denken Sie an die peinlichst zuverlässige Genauigkeit und nie mehr zu wiederholende Authentizität, mit der Egon Monk in„Ein Tag“den Ablauf eines Tages in einem deutschen Konzentrationslager während der dreißiger Jahre protokollierte.
Das Streben nach Detailgenauigkeit ist bezeichnenderweise in Verruf geraten, es gilt nachgerade als ein Ausweis des Mangels an Talent. Jene Genietümelei, die endgültig überwunden schien, ist wieder angesagt. Begabte junge Regisseure weisen das Verlangen, dass jeder Hosenknopf an einem Kostüm oder einer Uniform zu stimmen habe, weit von sich. Sie bestehen darauf, dass über der banalen gewöhnlichen Realität eine filmische oder künstlerische Wirkung oder gar Wahrheit als gewissermaßen übergeordnete Instanz existiere.
Verachtung von Realität - Verfälschung von Realität
Diese Vernachlässigung der ordinären Realität führt denn auch fast zwangsläufig zur Verfälschung von Realität; besonders deutlich erkennbar an vielen (den meisten) Darstellungen der Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges. Durch die Vernachlässigung von Detailgenauigkeit geraten sie zur Desinformation – auf Dauer und bei permanenter Wiederholung mit verheerenden Folgen. Die Realitätsverfälschung verstellt, ja, verunmöglicht jeden Zugang zum Verständnis historischer oder zeitgeschichtlicher Vorgänge und ihrer Ursachen. Die Vernachlässigung des Details führt uns natürlich - habe es eben schon mal gesagt, – in das unerfreuliche Kapitel der Verwandlung des deutschen Fernsehspiels in den Fernsehfilm – mit allen verhängnisvollen Folgen (für das Fernsehspiel).
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Aber dieses Kapitel müssen wir unbedingt noch abhandeln, nicht nur streifen, wie Sie sagten... |
M: Was denn noch? Wir wären nicht darauf gestoßen, wenn ich nicht wieder abgeschweift wäre; eigentlich wollte ich nur begründen, warum ich auch im Nachhinein meine unterhaltenden und anspruchsvollen Projekte nicht unterschiedlich zu bewerten vermag. Ich habe angesehene Preise für meine Krimis, wie für ernsthafte Stücke empfangen; meine Freude darüber hat keinen Unterschied gemacht.
Halt, eine einzige Auszeichnung fällt mir ein, die mich mutmaßlich mehr als alle Anderen befriedigte, mehr als manche Freundlichkeit, die über mich geäußert wurde. Ich meine einen Satz aus der Begründung des Alexander-Zinn-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg, es sei mir gelungen, „das Medium des Fernsehens dem schriftstellerischen Ausdruck verfügbar zu machen“. Mit anderen Worten – denn was wäre schriftstellerischer Ausdruck anderes als Sprache? - Ich hätte, wo ich es vermochte, im Medium Fernsehen die Bedeutung der Sprache durchgesetzt.
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Das erinnert mich an Hickethiers Behauptung in seiner Geschichte des deutschen Fernsehspiels, Sie seien der einzige deutsche Schriftsteller, dessen literarisches Ansehen durch seine Tätigkeit fürs Fernsehen sogar gewachsen sei. Und das bringt uns endlich zum entscheidenden Punkt: Die Fernsehspiel-Ästhetik von Dieter Meichsner und der Hamburger Schule... |
Sprache im Fernsehen - einige Erfahrungen eines Schriftstellers im Umgang mit dem Fernsehen
M: Aber, bitte! auch jetzt keine Theorie des Fernsehspiels, sondern niedriger hängen: einige - freilich langjährige - Erfahrungen eines Schriftstellers mit dem Medium Fernsehen. Ich entdeckte bald, warum mich als Autor das Kino nie gereizt hatte, was mich aber ans Fernsehen fesselte: die unterschiedliche Bedeutung der Sprache. Sie ist – auch wenn es jene zahlreichen Kino-Freaks unter den Machern, die sich ins Fernsehen verirren, nie begreifen werden – Sprache ist im TV dem Bild keineswegs hoffnungslos untergeordnet wie im Kino. Im Gegenteil. Sie ist dem Bild gleichgewichtet, mindestens. Es hat damit zu tun, dass die Vetternschaft eines Fernsehspiels mit der erzählenden Literatur viel enger ist, als die Verwandtschaft mit dem Drama oder dem Kino.
Eine Sippschaft - Roman und Fernsehspiel
Der TV-Zuschauer gleicht nicht dem Kinogänger sondern dem Leser
Erster Beleg für das Verwandtschaftsverhältnis ist die Empfänger-Situation. Das Fernsehspiel kennt – anders als Theater und das Kino - kein Publikum, d.h. keine Öffentlichkeit mit all den damit verbundenen kollektiven Affekten. Weil fast immer nur von der Gesamtheit, also Millionen von Zuschauern die Rede ist, gerät außer Betracht, dass wir es zwar tatsächlich mit Millionen von Zuschauern, aber Millionen Vereinzelter oder in kleinen Gruppen vor einem TV-Schirm Versammelter zu tun haben.
In dieser ihrer Vereinzelung ähneln Fernsehzuschauer eben nicht Theater- oder Kino-Besuchern, sondern Lesern (oder neuerdings Konsumenten von Hörbüchern). Oder einer jener Gruppen, die sich seit uralten Zeiten um ein Lagerfeuer versammelten, an dem ihnen ein Erzähler sein Garn spann. Im 20. und 21. Jahrhundert entsprechen dieser archaischen Situation jene Geschichtenerzähler, die in einem KZ oder Straflager eine Gruppe von Mithäftlingen um sich versammeln, um ihnen eine Geschichte zu erzählen oder wiederzuerzählen. (An den Typ habe ich bei der Entwicklung unserer Reihe „Verfilmte Literatur“ übrigens häufig gedacht).
Zweitens steht ein Fernsehspiel jedenfalls im Normalfall - will sagen, wenn es von einem Sender ausgestrahlt wird - nicht für sich allein, sondern wirkt – vom Zuschauer bewusst wahrgenommen oder nicht – nur als ein Bestandteil des unaufhörlich fortlaufenden Programms, gewissermaßen nur als ein Kapitel des endlosen stream of consciousness der Romantheorie.
Ein entscheidendes Drittes, das ein Fernsehspiel – im Wohnzimmer empfangen – von seinen vermeintlichen Verwandten Theater oder Film unterscheidet, ist die Bescheidenheit seines Formats, das sich der maßlosen Vergrößerung, also auch der Magie, dem Pathos versagt. Dieses menschliche Format erfordert eine entsprechende Sprache im unbestechlichen Normalmaß. Diese Sprache wiederum wird – in der Alltäglichkeit des Wohnzimmers einer beständigen Prüfung auf Stimmigkeit und Echtheit unterzogen, die den geringsten falschen Ton entlarvt, anders als beim Zuschauer in der Kinokathedrale, der sich, vorsätzlich der Gewöhnlichkeit des Alltags entzogen hat, um sich verzaubern, in jedem Fall aber optisch und akustisch übermächtigen zu lassen. Daraus ergibt sich eine Faustregel: Je größer das Bildformat, desto unwichtiger die Sprache, die im Kino der Breitleinwand ohnehin endgültig dem Geräusch zuzuordnen ist. So wäre womöglich die eigentliche Bestimmung des Kinofilms der Stummfilm. Gesten vermögen Sprache zu ersetzen. Eine Erzählung (i.e. ein Fernsehspiel) ohne Sprache ist undenkbar.
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Fernsehspiel ohne Sprache ist undenkbar. Endlich doch noch ein Bronzesatz der „Hamburger Schule“? |
M: Nein, nein, mein Verständnis von Sprache im Fernsehspiel war meine Privatsache; ich habe daraus nie ein verbindliches redaktionelles Credo zu entwickeln versucht.
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Aber es gab ein für die Redaktion verbindliches Credo? Oder ein Motto oder ein Leitwort oder einen Glaubenssatz? |
„Die Wurst vom anderen Ende her anschneiden.“ (Fontane)
oder „When an oppinion is anonymous, it most likely is wrong“
M: Mutmaßlich ja, einen Glaubenssatz, wenn auch ungeschrieben; mindestens wurde er von meinen Redakteuren so verstanden; ich hätte den Satz nie als Leitwort oder gar Credo formuliert. Ich hatte ihn mir – zwar mit anderen Worten - mit der Zeit dermaßen zueigen gemacht, lange ehe ich ihn bei Fontane aufgeschrieben fand; er entsprach ganz und gar meiner Lebens- also auch Berufs-Auffassung. Er war mir in Fleisch und Blut übergegangen, wie man so sagt. Offenbar muss ich Fontanes Forderung dann und wann im Kreis der Redaktion erwähnt haben, denn viele Jahre später hat sich einer der jungen Redakteure, die in Hamburg ihre Lehrjahre erlebten, ehe sie zu meiner Freude später Karriere machten, an diesen Fontane-Satz man müsse als Schriftsteller „die Wurst vom anderen Ende her anschneiden“ erinnert. Mehr noch: Er habe ihn seinerzeit als Parole oder Credo der „Hamburger Schule“ verstanden, als Ausdruck der Haltung, die uns von allen anderen Fernsehspielabteilungen unterschied. Er hatte wohl Recht. Auf den anderen Satz„Wenn eine Meinung zur einhelligen Wahrheit wird, ist sie höchstwahrscheinlich falsch.“ (Professor Adelman vom MIT) stieß ich erst viel später Der Fund war mir hochwillkommen – er bewies mir die Notwendigkeit von Fontanes Maxime, ja „Die Wurst vom anderen Ende her anschneiden“ war gewissermaßen die Nutzanwendung von Adelmans Einsicht: Wenn man den Fehler vermeiden wollte, eine einhellige, also höchstwahrscheinlich falsche Meinung zu verbreiten, einen verhängnisvollen Trend noch zu verstärken, war es unerlässlich, „die Wurst vom anderen Ende her“ anzuschneiden.
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Erinnern Sie sich noch daran, wie es war, als Sie zum ersten Mal auf Fontanes Satz stießen. Ging Ihnen ein Licht von Einsicht auf oder entsprach er lediglich Ihrer Art zu denken und zu schreiben? |
M: Er bestätigte meine Art zu denken. Er vergewisserte mich durch die Jahre häufig, so oft ich zweifelte, ob ich meine Querköpfigkeit nicht übertriebe. Die Haltung war unausgesprochen und ungedacht schon vorher da. Ich habe mich freilich nie gefragt, wo sie ihren Ursprung hatte. Genetische Voraussetzung? Womöglich. Andererseits erinnere ich mich keiner auffälligen Aufsässigkeit als Schüler oder eher braver Pimpf, der ja bekanntlich (ich habe es ja in meinem ersten Buch, „Versucht’s noch mal mit uns!“ beschrieben) bis zuletzt glaubte, erfüllen zu sollen, was er für seine Pflicht hielt. Freilich war ich seit jeher angewidert von jeder Art Massenveranstaltung, wie der alljährlichen „Sommerlager“. Erinnere mich auch noch gut des Schreckens, als unser Fähnleinführer mich eines Nachmittags, zu Beginn des wöchentlichen Dienstes vor die Front rief um mir mitzuteilen, dass ich für eine Adolf-Hitler-Schule ausersehen sei. Zu meiner Verwunderung brachte ich den Mut auf, zu erklären, dass ich diese Auszeichnung nicht verdiente und lieber darauf verzichten wollte. Wenn ich daran zurückdenke, müsste ich allerdings ergänzen, dass ich nicht lange danach meine Absage stark bedauerte. Das war, als unser „Fähnlein“ eines Nachmittags von zwei Adolf-Hitler-Schülern besucht wurde, weiß nicht mehr, aus welchem Anlass. Es muss in der kalten Jahreszeit gewesen sein, die beiden Fünfzehn- Sechzehnjährigen trugen knöchellange Wintermäntel und schwarze Schirmmützen, wie sie damals auch als Ski-Mützen Mode waren. Wodurch veranlasst, weiß ich nicht mehr: Plötzlich vollführten die beiden, aus dem Stand und ohne irgend Schwung zu holen, einen perfekten Salto rückwärts, rückten ihre Mützen zurecht, gingen gemessenen Schrittes davon und ließen mich mit einem tiefen Minderwertigkeitskomplex zurück. Mutmaßlich sind auch die beiden – wie so viele ihrer Schulkameraden – als Angehörige der Division „Hitler-Jugend“ wenige Jahre darauf in der Normandie verheizt worden.
Ob es nun also bei mir eine – wenn ja; dann mutmaßlich auf meine Mutter zurückgehende - genetische Voraussetzung,von Aufmüpfigkeit gab oder nicht – spätestens seit der Erfahrung des Jahres Fünfundvierzig, als ich, noch nicht erwachsen, als Opfer und Zeuge einer kollektiven Verführung (Idiotie) aus einem Massenrausch erwachte, war ich immun. Seitdem funktionierte ein überempfindliches Sensorium, das mir gegenüber jeder gemein- schaftlichen Aufwallung – und sei sie noch so friedfertig und sympathisch - Angst einflößte. Meine erste schriftstellerische Arbeit („Versucht’s noch mal mit uns!“) war ja die Erinnerung an die furchtbaren Folgen des Massenwahns, von kollektiver Gläubigkeit.
Die viel später von mir entdeckte, etwas burschikos formulierte Einsicht des Professor Adelman vom Massachuesetts Institute of Technology, „When an oppinion is unanimous,it most likeliy is wrong, - Wenneine Meinungzur einhelligen Wahrheit wird,ist sie höchstwahrscheinlich falsch - hatte ich inzwischen unzählige Male, ja, Tag für Tag bestätigt gefunden.
Aus dieser Einsicht ergab sich die Schlussfolgung: Sobald eine Stimmung, ein Trend zur Mode, zum Zeitgeist, zum Dogma gerinnt, istVorsicht geboten, wenn eine allgemeine Stimmung (gemeinschaftliche Überzeugung) so übermächtig wird, dass sie jeden Einwand, jeden Widerspruch erstickt, wird Zweifel zur Überlebensnotwendigkeit. Aber – um des Himmels willen – das hört sich streng an und, vor allem, konsequent. Mutmaßlich war mein Misstrauen gegen den Konformismus in jeder Form nicht mehr, als eine unbezwingbare Lust auf Widerspruch gegen den Chorus der Trendmenschen.
Ich gewöhnte mich daran, meine Zeit unbeeinflusst vom Zeitgeist zu betrachten
Der kleine Roman „Weißt Du, warum?“, erzählte schon 1952 vom Schicksal deutscher Juden, Jahre ehe die Beschäftigung mit den Verbrechen zum Allerweltsthema der Literatur wurde.
Der Roman „Die Studenten von Berlin“ beschrieb die erstarrten Fronten des Kalten Krieges, lange, ehe die Polemik gegen die Frontstadt-Mentalität in West-Berlin schick wurde. Ähnlich früh der Blick auf die „Brüder und Schwestern“ im geteilten Deutschland: „Besuch aus der Zone“. Öffentlich ebenso erbittert gescholten und denunziert wie zehn Jahre später „Alma Mater“ der Film über den Weltverbesserer-Wahn der 68er, der nicht lange danach in die mörderische Sackgasse der Baader-Meinhof mündete. Mit dem Fernsehspiel „Der große Tag der Berta Laube“ kam ich der Schwemme und Mode von Fernsehspielen aus der Arbeitswelt um Jahre zuvor.
Ich habe Fontanes Satz auch als Fernsehspielchef zu beherzigen versucht
Das galt selbst für die geringe Zahl an Theateraufzeichnungen, die wir produzierten. So zeichneten wir gerade nicht die von den Rezensenten hoch gelobten Inszenierungen auf, sondern zum Beispiel die von der Kritik verhöhnte „Räuber“-Aufführung von Egon Monk am Hamburger Schauspielhaus. Ähnlich verhielten wir uns gegenüber Kortners „Clavigo“, einer Inszenierung, die – nach der Premiere von der Kritik niedergemacht - ein halbes Jahr später von eben denselben Kritikern zur „Inszenierung des Jahres“ gewählt. wurde. Das Selbstverständliche, Durchgesetzte überließen wir anderen.
Wir haben uns mit Vorliebe Autoren, Stücken, Themen zugewandt, die bei den übrigen Redaktionen keine Chance gehabt hätten, entweder weil sie viel zu früh kamen und vom Trend noch nicht erfasst oder aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängte waren. Soll ich Titel nennen? „Gift“– Friedhelm Werremeiers Umwelt-TATORT, ein Vierteljahrhundert, ehe Öko-Kriminelle zu Allerwelts-Serientätern wurden. Hädrichs staunenswert detailgetreue „Erinnerung an einen Sommer in Berlin“ (nach einem Romankapitel von Thomas Wolfe, über seinen Besuch der Berliner Olympiade von 1936), ein Menetekel, das wir der Euphorie, dem Jubel über die Münchener Spiele von 1972 entgegenstellten.
„Die Grenze“ (über die Wirklichkeit an der deutsch-deutschen Demarkationslinie), „Mittags aufdem Roten Platz“(Wedel; über Dissidenten in der Sowjet-Union), „Der Antrag“ (über die unmenschlichen staatlichen Schikanen gegen so genannte Ausreisewillige in der DDR). Heute längst vergessen, dass in jenen Jahren die Beschäftigung mit den Lebensbedingungen des realen Sozialismus nicht nur unter intellektuellen Kollegen als gänzlich unzeitgemäß galt. Wer gegen den Verdrängungsmechanismus verstieß, sah sich rasch als Kalter Krieger abqualifiziert. In den siebziger Jahren strahlten wir ein Stück des in England lebenden jüdischen Polen Leo Lehmann aus: „In freier Landschaft“(The lefthanded corkscrew), einen szenischen Essay über Geschichte und Realität des Sozialismus, an dessen Ende der Regisseur Michael Kehlmann in einer grandios komponierten phantasmagorischen Sequenz den Fall der Berliner Mauer vorwegnahm (die jungen Kollegen den Atem verschlug, als sie den Film zwanzig Jahre später, nach der Wende, noch einmal sahen.) Dass der damals in seiner Partei mächtige Staatssekretär im Wissenschaftsmuseum Peter Glotz mich öffentlich einen „verkommenen“ Menschen nannte und die oben erwähnte Mauerfall-Sequenz „Kriegshetze“, war zwar alles andere als spaßig, aber derlei Pöbeleien war ich nachgerade gewöhnt. Die einhellig verständnislosen, wütenden Polemiken in der liberalen (keineswegs nur linken) Presse hatten aber auch eine sehr konkrete Folge: Sie bestimmten mich, ein Groß-Projekt, das wir mit „In freier Landschaft“ begonnen hatten, unmittelbar nach dem Start schon wieder fallenzulassen. Beabsichtigt hatte ich, unter dem Titel „Der Traum von einem Paradies auf Erden“eine Reihe von Fernsehspielen, auch Literaturverfilmungen, von Koestler, Sperber, Regler, über den Sozialismus. Als zweites Stück – nach „In freier Landschaft“ - sollte Rolf Busch „Das Radieschen“ (eine Erzählung von Joseph Breitbach) inszenieren. In der Folge des empörten Echos auf „In freier Landschaft“ bat mich Busch (alles andere als ein Hasenfuß!), seinen Breitbach-Film aus der geplanten Sozialismus-Reihe herauszunehmen. Er fürchtete, in Sippenhaft genommen zu werden. Die wollte ich nicht nur ihm, sondern auch allen anderen betroffenen Kollegen ersparen. So ließ ich den Plan einer Reihe fallen; es war, wie gesagt – aber wer erinnert sich noch daran? - Mitte der siebziger Jahre gänzlich inopportun, sich kritisch mit der Wirklichkeit des Sozialismus zu befassen.
Mit unseren Produktionen über die deutschen Massenverbrechen an den europäischen Juden – zum Beispiel „Der Tisch“(über die Unmöglichkeit, ein Pogrom im besetzten Polen dreißig Jahren später nach den Regeln der deutschen Strafprozessordnung zu sühnen), „Das Protokoll“Regie: Dieter Wedel. (die erste Vernehmung des Adolf Eichmann durch einen israelischen Untersuchungsbeamten, LIVE-Sendung aus Bonn mit politischer Prominenz unter den Zuschauern), „Der Prozess“von Eberhard Fechner (die Selbstdarstellung von Tätern und Opfern des Vernichtungslagers Majdanek) – verhielten wir uns zwar politisch korrekter, lagen aber nicht im Trend, noch nicht, er setzte erst einige Jahre später voll ein. Ich könnte mit der Aufzählung fortfahren, aber wer erinnert sich noch an die Titel?.
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Ich, zum Beispiel, verbinde mit dem einen oder anderen Titel Erinnerungen an Bilder,an Stimmungen, an Szenen. Und vergessen Sie Ihren Stendhal nicht „Allein im Detail steckt die Wahrheit...“ Und wir sind doch noch längst nicht durch, mit dem Repertoire der „Hamburger Schule“. Dem Spielfilm galt, und das war schon damals branchenweit bekannt, ihre Leidenschaft nicht, aber die verfilmte Literatur...ein Markenzeichen der Hamburger Schule? |
Nein, Filmförderung, bitte nicht
M: Mit der Spielfilmförderung haben Sie natürlich recht: Eben nur soviel, wie uns abverlangt war, Belassen wir es dabei – es wäre ein Kapitel für sich. Mir kam es ja ausschließlich auf die Entwicklung der eigenständigen Gattung Fernsehspiel an. Aber auch bei der Filmförderung haben wir versucht, nicht den bequemsten Weg zu gehen: Wir setzten nicht auf Fassbinder, Geißendörfer und so weiter; wir hielt es mit der Förderung von Anfängern, die unser Geld nötiger hatten. Doris Dörrie zum Beispiel mit ihrem Debutfilm, lange ehe sie sich durchsetzte.
Und erst recht ist unserer Reihe „Verfilmte Literatur, große Erzähler reflektieren die Geschichte ihrer Zeit.“ aus Widerspruch entstanden: Zu der Zeit, als die Aufgeregtheit der so genannten 68er-“Bewegung“ in die Funkhäuser (auch in Fernsehspielredaktionen) schwappte, mit einer Welle von „progressiven“ Lehrstücken, entschlossen wir uns – Monk, Hädrich, ich, - unabhängig voneinander aber nicht zufällig gleichzeitig - dieser Verödung des „Zeitstückes“ (unserer ureigenen Domäne) die Sprache großer Erzähler entgegenzusetzen.
Wir haben uns dabei – entgegen der üblichen redaktionellen Vorgehensweise - niemals nach fernsehgeeigneten Vorlagen in der Literatur umgetan, als Ersatz oder Aushilfe, weil es uns an originären Stoffen mangelte, wir haben vielmehr ausnahmslos Romane verfilmt, von denen ein Regisseur (oder Autor) so tief beeindruck war und durch und durch von dem Wunsch erfüllt, dieses Werk und kein anderes, fürs Fernsehen aufzubereiten und möglichst vielen Menschen zu erzählen, weiterzuerzählen. Die herkömmlichen dramaturgischen Kategorien spielten gar keine Rolle. Hädrichs nahezu aktionsloses „Fischkonzert“ (Laxness) war für eine herkömmliche Literaturverfilmung im Fernsehen ebenso untauglich wie der „Stechlin“oder „In der Sackgasse“(ein verschollener Roman des unter Stalin verschollenen Autors Weressajew, den der Regisseur Rolf Busch in der Hamburger Staatsbibliothek wiederetdeckte) oder Joseph Roths „Hiob“ (Michael Kehlmann).
Mag sein, dass sich die meisten unserer Literaturverfilmungen auch dadurch vom Regelfall unterschieden, dass wir die Romane möglichst nicht „dramatisierten“, das heißt auf die Dialoge reduzierten; sondern dass wir, darauf bestanden, wo immer möglich, Erzähltext zu bewahren, um den Zuschauern wenigstens annähernd den Duktus und die Melodie, as Aroma der Prosa des Originals zu vermitteln. Ich wurde kürzlich an ein zweites Motiv erinnert, das uns damals veranlasste, Romane zu verfilmen, Es wird Sie noch einmal an den missionarischen Eifer vom Anfang unseres Gesprächs erinnern. Warum auch nicht? Wir wollten den Reichtum der Literatur an die weitergeben, die ihn noch nicht kannten.
Rolf Hädrich hoffte, aus Zuschauern Leser zu machen
Daran musste ich denken, als ein deutscher Groß-Kritiker vor der Sendung einer neuen Verfilmung von „Krieg und Frieden“ (im ZDF) den Zuschauern empfahl, unbedingt einzuschalten. Denn wenn sie den Film gesehen hätten, brauchten sie – sinngemäß - das Buch nicht mehr zu lesen. Für uns galt gerade andersherum Rolf Hädrichs Wunsch: Er wollte, - wie wir alle, - „aus Zuschauern Leser machen“. Glaube nicht, dass wir uns dessen schämen müssen. Gutes Schlusswort. Oder?
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Einen Tick zu früh. Bleibt Schwarz-Rot-Gold, achtzehnmal. So viele Fernsehspiele schafft mancher Autor im Leben nicht, auch wenn er sich daneben mit nichts Anderem beschäftigt, schon gar nicht mit der Leitung einer Hauptabteilungsleitung. Entstand auch Schwarz-Rot-Gold aus Widerspruch? |
Schwarz-Rot-Gold: Realitätstreue und Detailgenauigkeit
M: Nein. Aus Zorn. Der Entschluss war fertig, als ich gerade erst anfing, ein TATORT-Manuskript zu lesen und diesmal nicht erst auf Seite zwölf, wie üblich, sondern bereits auf Seite vier, auf die unvermeidliche Frage des Kommissars an den Doktor stieß: „Können Sie schon sagen, wann der Tod eingetreten ist?“
Als die TATORTE immer zahlreicher und immer beliebiger wurden, habe ich mich gefragt, ob es nicht gelingen könnte, die Regeln eines Realismus der diesen Namen verdient (und zugleich den Lehrsatz eins der Hamburger Schule erfüllt. „Soviel Realität wie möglich, nur soviel Kintopp, wie unerlässlich“)auch auf einen Krimi anzuwenden. Sie können sich vorstellen, wie ich mich gefreut habe, als - Jahre später - Kripo-Hauptkomissar in einer Fachzeitschrift für Kriminalistik begründete, warum es nach seinem Dafürhalten nur einen realistischen deutschen Fernseh-Krimi gäbe: Schwarz Rot Gold.
Mir ist, in dem Zusammenhang erinnert, die Zustimmung von Sachkundigen zu meinen Stücken immer wichtiger gewesen als das Lob von Kritikern. Dass seinerzeit die westberliiner Schutzpolizei eine Kopie von „Preis der Freiheit“ (1965) erwarb, um das Stück ihren jungen Polizisten vorzuführen, damit sie sich besser auf die psychologische Situation der DDR-Grenzsoldaten einzustellen vermöchten, hat mich tief befriedigt. Ebenso die Tatsache, dass „Novemberverbrecher“(1968)in einigenBundesländernals Quellen-Material im Schulunterricht eingesetzt wurde. Auch bei „Schwarz-Rot-Gold“ waren mir Realitätstreue und Detailgenauigkeit unendlich viel wichtiger als filmische Finesse. Theo Mezger, der die meisten Stücke der Reihe inszenierte, hat mich verstanden und bis zur Selbstverleugnung auf das Vorzeigen seiner Kunstmittel verzichtet.
Die meisten Kritiker, selbst die, die mir und der Reihe wohl wollten, haben den gänzlich anderen Krimi, der mir vorschwebte, nie begriffen, häufig rieben sie sich an der filmisch-optischen Aufarbeitung,
Sollte eigentlich noch erklären: wenn schon Krimi, warum ausgerechnet die extrem schwierig nachzuvollziehende Wirtschaftskriminalität und keine andere. Zuerst war es wohl mein Überdruss an der Häufung von Mord- und Totschlags-Krimis. Neuerdings läuft ja nahezu an jedem Tag in einem der Sender ein TATORT; der Inflation von blutigen Leichen auf allen sonstigen Kanälen ganz zu geschweigen.
Aber meine Gründe, es mit dem Wirtschaftskrimi zu versuchen, sind ja an vielen Stellen nachzulesen. öchstwahrscheinlich reizte es mich aber einfach, wieder einmal ein Brett an der dicksten Stelle zu bohren.
Drei Stücke Schwarz-Rot-Gold – auch das habe ich schon beschrieben – wollte ich liefern, dann Schluss. Nach dem unverhofften Erfolg der ersten Staffel glaubte ich noch eine zweite schuldig zu sein. Die dann folgenden weiteren Dutzend Schwarz-Rot-Gold waren vor allem das Ergebnis eines langwährenden Verzichts.
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Das wenigstens müssen Sie noch erklären! |
Die Realität ist unerheblich – was allein zählt ist ihre Wahrnehmung durch die Medien
M: Zu dem Zeitpunkt, als ich die ersten Schwarz-Rot-Gold ablieferte, verfügte das NRD-Fernsehspiel nur noch über ein gänzlich unzureichendes Budget. Wir waren, gemessen etwa an unserem Wettbewerber WDR, Hungermäuse.
Unsere Nachfahren, die heute Millionenbeträge in so genannte, na, „Events“ investieren, sind sicher außerstande, sich in unsere damalige finanzielle Lage zu versetzen.
Es gab für mich keine Alternative: Es war mir klar, dass ich, in meiner privilegierten Stellung als Autor und Redaktionsleiter, die kläglichen Restmittel, die wir für anspruchsvolle - Sie wissen schon – Zeitstücke überhaupt noch aufzubringen vermochten, nicht für eigene Projekte verbrauchen dürfte. So habe ich mich mit den vergleichsweise preiswert zu produzierenden „Schwarz-Rot-Gold“ begnügt und gleichzeitig für die Einschaltquote gesorgt, die für unsere neuen Oberen, die ich in den letzten Jahren meiner Redaktionstätigkeit noch erlebte, mehr und mehr zur Hauptsache wurde. Indem ich die Zuschauererwartung mit Zollfahnder Zaluskowski befriedigte, ersparte ich es Kollegen, sich um ihre Quote zu sorgen.
Darüber blieben zwei anspruchsvolle freilich auch kostenintensive Projekte, mit denen ich zu guter letzt vorzuführen hoffte, was das Fernsehspiel als künstlerisches Ausdrucksmittel des 21. Jahrhunderts zu leisten vermöchte, ungeschrieben.
Thomas Mann hat einmal formuliert, für den realistischen Romanautor sei nicht das Erfinden die entscheidend Leistung, sondern das Finden. Über diese einfältige Auffassung ist das Informationszeitalter inzwischen weit hinausgelangt. In der Zeitung „Le Monde“ wiederholten kürzlich zwei französische Kommunikationsgurus die Erkenntnis, dass heute die Realität selbst unerheblich geworden sei. Was allein zähle, sei ihre Wahrnehmung durch die Medien.
Ich hätte gerne nachzuweisen versucht, dass das Fernsehen, das zur Verflachung, Verfälschung, Verflüchtigung von Realität in besonderem Maße beiträgt, indem es seine einäugige Glotze unaufhörlich, ohne je inne zu halten unstet über den Globus streifen lässt, dass sich selbst dieses (mein) Medium auch als ein Mittel zur Wahrheitsfindung nutzen ließe. Durch Fernsehspiele, zum Beispiel.
Diesen Beweis werden andere antreten. Des bin ich sicher, hundertprozentig.
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Biograpfische Notiz:
Hans-Dieter Schütt
Hans-Dieter Schütt zählte als Chefredakteur der Zeitung „Junge Welt “ zum halben Dutzend der maßgeblichen Publizisten in der DDR.
Ich kenne ihn nur als ein Unikat: Als den einzigen Journalisten in Ost- und Westdeutschland, ob in den alten oder neuen Bundeslländern, der seine publizistischen Fehlleistungen später bekannte und ihretwegen rücksichtslos mit sich ins Gericht ging.
Ich erinnere mich, dass Winfried Scharlau, nicht lange vor seinem, Tode, anlässlich einer Podiums-Diskussion um Nachsicht dafür warb, dass Journalisten und Publizisten es in der Regel nicht über sich brächten, selbst schwerwiegende Fehlurteile im Nachhinein einzu räumen; ich bedauere bis heute, dass ich ihm nicht öffentlich widersprach: Doch, ich kennte einen: Hans- Dieter Schütt.
Dieter Meichsner
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